Geschichten von der Mauer: Ein ganz normaler Tag

Triggerwarnung!

Dieser Text enthält intensive und explizite Darstellungen von Gewalt, schwerem Leid, Tod, sowie Blut und Verstümmelung, die für manche Leser:innen verstörend wirken können. Bitte lesen Sie mit Vorsicht und berücksichtigen Sie Ihre persönlichen Grenzen.

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Dieser Text entführt Sie in eine von vielen Gestalter:innen gemeinsam erschaffene dunkle Fantasie-Horrorwelt, die komplexe und anspruchsvolle Themen erforscht und abbildet. Die intensiven und expliziten Darstellungen von Gewalt, Leid und Tod sind unter anderem ein Bestandteile dieser düsteren und facettenreichen Erzählung. Bitte lesen Sie mit Bedacht und berücksichtigen Sie Ihre persönlichen Grenzen.

Skayarus, Bogenschütze an der Mauer, 3. Tag

 

Es ist, als ob meine Augen ein Fernrohr wären, als ob meine Augen ein Tagebuch wären, in dem ein übereifriger Schreiberling alle seine Eindrücke im größten Detail einschreibt, um sie vor dem Schlafengehen langsam zu lesen, um sich alles nur allzu deutlich ins Gedächtnis zu rufen, denn anders kann ich mir nicht erklären, dass ich Details des über dreißig Meter entfernten Erdbodens wahrnehme, als stünde ich darauf. Ich sehe weiße Knochen, geborsten, zertrümmert, Fußknöchelchen, Fingerknöchelchen, Rippenbögen, Rückgrate und wünschte, es wäre alles, was ich sehe. Aber ich sehe auch die frischen Leichen, deren Körpersäfte in den Untergrund sickern und ihn mancherorts rot, mancherorts schwarz färben. Ich sehe die Maden mit ihren gelbweißlichen, fetten Leibern, die wuseln und wurlen, die sich noch fetter fressen, am schon etwas älteren Fleisch. Ich sehe neben rotem Fleisch das labbrige, weiße Fett hervorblitzen, sehe auch die verkohlten Stellen, wo alles knusprig gegart oder auch nur äußerlich verbrannt und innen roh ist, deren Grillgeruch bis zu mir nach oben weht und macht, dass ich mich erbrechen möchte, während mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Warum riecht ein gebratener Mensch wie jedes andere gebratene Fleisch? Warum kann mein hungriger Magen das nicht unterscheiden?

Ich höre das Schmatzen, wenn unten jemand auf die, zerstampften, breiigen Überreste der Gefallenen steigt, das Knacken, wenn dabei ein weiterer Knochen bricht. Ich höre das Gurgeln und Röcheln und Grunzen unmenschlich veränderter Gestalten, selbst wenn ich sie nicht sehen kann, ja sogar, wenn sie gar nicht da sind! Jedes Bild frisst sich in mein Gehirn, brennt sich ein wie eine Ätzung auf einer polierten Metalltafel. Drei Tage sind es erst, die ich hier bin und schon ist mein Hirn voll von Erinnerungen, die mich nie wieder loslassen werden, die nur durch die Gnade von Priestern und Priesterinnen oder magisch Begabten wieder entfernt werden könnten. Dort hinten ist der Fleischhaufen, der ausgesehen hat wie meine kleine Tochter, die weinend und um Gnade winselnd auf mich zuwankte, während Pfeil um Pfeil einer silbermaskengesichtigen Gestalt neben mir, sich in ihren Leib bohrte, ein blutiges Massaker hervorrief und sie dennoch nicht töten konnte.

„Papa, Papa, es tut so weh, ich will nicht sterben!“ schrie ihr glockenhelles Stimmchen. Ihr Körper wankte und erzitterte mit jedem Einschlag. Sie sah aus wie eine der Zielscheiben, die wir zum Übungsschießen benutzten. Blut lief in Strömen über ihre nackten, dreckigen Beine. „Es treibt mich weiter, bitte mach, dass es aufhört, Papa hilf mir!“

Entsetzt starrte ich den Mann – oder war es eine Frau? – neben mir an, der unbeirrt Pfeil um Pfeil auflegte. Ich hasste ihn in dem Moment, mehr als ich die Kreaturen hasste, aber ich war wie erstarrt, ich konnte mich nicht bewegen. Da traf mich etwas hart am Hinterkopf. Es war die handschuhbewährte Hand einer weiteren Gestalt mit Silbermaske, die mich zugleich anschrie:

„Trugbilder, Soldat! Kämpfe!“ Außer den Augen konnte ich nichts in dem Gesicht erkennen und diese Augen waren kalt und starrer als ich mich fühlte. Ich war sicher, die Gestalt hatte sich mir überhaupt nur zugewandt, weil es den Anschein machte, ich könnte die schießende Gestalt behindern. Der Blick und die Worte waren eine Warnung gewesen – nichts mehr. Behindere uns und du wirst entsorgt, egal auf welche Seite der Mauer. Hinter der Mauer hatte ich wenigstens die Chance, mir nur das Genick zu brechen. Auf ihrer Vorderseite wartete die Verdammnis. Ich hatte es bereits miterlebt, an meinem ersten Tag. Eine Frau war gefallen, eine Soldatin. Sie kreischte und schlug um sich, während sie fiel. Noch bevor sie unten ankam stakten drei Armbrustbolzen in ihrem Herzen. Sie hätte auf der Stelle tot sei müssen, doch sie schrie weiter, schrie auch noch, als dort unten eine klauenbewährte Gestalt nähergekrochen kam und mit ausholenden Gesten ihren Lederpanzer zerriss und das weiße, unberührte Fleisch darunter freilegte. Die Frau wehrte sich, aber die Gestalt hatte sich dupliziert und eine der krallenbewehrten Ungeheuer rammte seine Arme in ihre Hände und nagelte sie am Boden fest, während das andere Ungeheuer erst die drei Pfeile aus ihrem Herzen riss und zur Seite warf und dann begann, ihren Bauchraum zu öffnen und sich an den warmen, dampfenden Gedärmen gütlich zu tun. Es zog den Darm hervor, der mir endlos lang vorkam und schlürfte alles in sich hinein. Dann folgten weitere Organe – Leber, Niere, Magen, ich weiß es nicht, ich bin anatomisch nie so geschickt gewesen. Kein einziger Zauber und kein einziger Pfeil trafen die schaurige Szenerie, nur einer der Soldaten neben mir erbrach sich geräuschvoll nach vorne und besudelte die ohnehin dreckige Mauer.

„Warum hilft ihr denn niemand?“ schrie ich, meine Stimme viel schriller, als ich sie gewohnt war und endlich erwachten auch meine Arme zum Leben und ich nahm einen Pfeil aus dem Köcher und legte an und schoss in ihren Kopf. Ich legte erneut an, da fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, die mich zurückhielt.

„Spar dir die Pfeile, sie ist tot“, und wie die Soldatin es mir sagte, da sah ich es endlich. Sah dass die Frau sich gar nicht mehr wehrte, sah dass nur das Herumzerren und Reißen der Krallenbestie ihren Leichnam rüttelte. Sie schrie auch nicht, sie flehte nicht, sie winselte nicht. Das war an meinem ersten Tag, während meiner ersten Stunden. Und das war nur einer der ganz normalen Tage, ohne größere Aufregungen. Es sollte von da an nur schlimmer werden.

Autorin: Elisabeth Schwaiger